Jugendweihe - Hermann-Gymnasium und der Oskar Kämmer Schule

dass dieser Tag als solcher ein Geschenk für Euch darstellt und nicht umgekehrt nur Geschenke den Tag darstellen. An einem so bedeutenden Tag zu Euch zu sprechen, ist gar nicht so einfach, wie man es schon in der Anrede hören konnte. So muss ich zugeben, Euch zu Siezen fällt mir noch ein bisschen schwer. Irgendwann muss man wohl den Wechsel zum Sie akzeptieren, wenn das Erwachsenwerden auch ein längerer Prozess ist. Man kann eben schlecht halb Du und halb Sie sagen. Gestattet mir, heute unmittelbar vor der eigentlichen Jugendweihe aber noch einmal das vertrautere und zugänglichere Du bzw. Ihr und Euch zu wählen.

Kommt Ihr Euch heute auch ein bisschen komisch vor wie ich selbst damals bei der Jugendweihe, plötzlich wie ein Erwachsener behandelt zu werden? Plötzlich soll man auf Augenhöhe mit den "Großen", mit den Erwachsenen stehen. Ein wenig ist das ja so, als wenn man eine Medaille umgehängt bekommt, deren Sieg und Erfolg man sich erst noch erkämpfen muss. Das macht ein bisschen verlegen. Das ist ein bisschen mulmig, ist ein bisschen lustig, ein bisschen unangenehm, macht ein wenig unsicher, macht aber auch ein ganz klein wenig stolz. Ihr fragt Euch heute vielleicht: "Bin ich denn wirklich schon erwachsen?" Und: "Was kommt da auf mich zu, wenn ich auf einmal viel ernster genommen werde?"

Ihr steht ja - wie man sagt - auf der Schwelle zum Erwachsensein. Und wer über eine Schwelle geht, steht mit einem Bein noch im alten Raum, mit dem anderen schon im neuen. Vielleicht ist ja deshalb die Jugend die schönste Zeit des Lebens, weil man auf dieser Schwelle steht. Weil es ein Dazwischen sein ist, ein Zwischenzustand. Dieser Zustand ist zwar einerseits unsicher und ziemlich verrückt, aber andererseits ist diese Zeit wie keine andere voller Überraschungen, Ideen, Fragen, neuer Eindrücke und nie gekannter Gefühle. Da brauche ich bloß die berühmten Flugzeuge im Bauch zu nennen, und Ihr wisst, was ich meine:

Das heißt, einerseits fällt heute das letzte Stück Eierschale von Euren Ohren und Ihr schaut in eine neue spannende Welt. Andererseits möchtet Ihr die Annehmlichkeiten und Freiheiten des Kindseins vielleicht gar nicht so einfach und schnell ablegen. Und habt da noch die gewissen Berührungsängste, was völlig normal und verständlich ist. Ich kann Euch eines versichern: Das Erwachsenwerden hört im Grunde nie auf, endet eigentlich wirklich erst mit dem Tode. Denn der Weg des Lebens ist die Zeit der Reife. Der grüne Apfel ist zwar knackig, aber noch süßsauer. Der reife Apfel hat zwar ein paar "Stellen", ist aber auch wunderbar süß. Das sind die ewigen zwei Seiten einer Medaille. Nie ist alles beisammen, alles hat eine Kehrseite. Kluge Leute nennen das Janusköpfigkeit. Als junger Mensch möchte man nichts lieber als endlich älter werden. Als älterer Mensch möchte man nichts lieber, als möglichst  jung zu bleiben.
Nicht selten werden auch Begriffe wie Stärke und Schwäche verwechselt. Ein so genannter Spätzünder verfügt nicht selten über stille Qualitäten wie Besonnenheit und Hemmung. Die mutige und offensive Frühreife dagegen gerät vom Fortschritt manchmal auch zum Fortsturz. Der eine muss Courage, der andere sich zügeln lernen. Letztendlich gilt wohl: Die Unvollkommenheit des Menschen ist vielleicht ein sicheres Zeichen dafür, dass wir nicht die Größten und Letzten unter diesem Sternenhimmel sind. Aber erst unsere Fehler, Mängel und Schwächen machen uns sympathisch und zu Menschen. Ein perfekter Mensch ist eine Horrorvorstellung.

Warum ist es aber so schwierig, erwachsen zu werden und zu sein? Dass Männer immer spielende Kinder bleiben und Frauen ewig albern sein werden, ist nur ein äußeres und gesundes Zeichen dieser Schwierigkeiten. Diese Leichtigkeit des Seins zu suchen ist ein notwendiger Ausdruck unserer Schwierigkeiten, das Leben insgesamt zu bewältigen. Die Zeit der immer wiederkehrenden Leichtigkeit gibt uns Kraft für die schwereren Zeiten und Aufgaben: Für Schwierigkeiten, für Niederlagen, für Hindernisse, für schlechte Erfahrungen, für Enttäuschungen und für Trauer. Deshalb, damit man langsam, aber sicher beginnt, sich auf die Herausforderungen des Lebens einzustellen und sich zu wappnen, deshalb gibt es diesen heutigen Tag der Jugendweihe. Und was bedeutet das?

Gar nichts Schlimmes! Nur etwas sehr Spannendes! Das Leben, dies dürft Ihr mir abnehmen, ist aufregend, ist schön und ist wunderbar! Es braucht da nur ein paar Tugenden, Werte und gute Eigenschaften, um besser mit ihm umzugehen. Nun gibt es hundert Tugenden, Werte und gute Eigenschaften, die Euch Eure Eltern, Verwandten, Lehrer und anderen Erwachsenen immer wieder hinter die Ohren geschrieben haben, um das Grüne dahinter langsam zu überdecken. Die Frage war dann immer: Blieb davon etwas hängen oder blieben nur die Eierschalen hängen? Dabei wissen wir aber zu Eurer Beruhigung: Wir sind als Menschen nun einmal fehlbar und niemand ist perfekt. Man muss also eine Auswahl treffen, was einem besonders wichtig ist. Da ich heute zu Euch sprechen darf, nenne ich Euch einmal meine sechs Favoriten, ohne die vielen anderen gering zu schätzen.

Ganz oben stehen für mich das Verantwortungsbewusstsein, das Gerechtigkeitsempfinden, die Weltoffenheit, die Tapferkeit, die Lernbereitschaft und der Humor. Die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, macht Euch fit für eine Partnerschaft, für die fürsorgende Gründung einer Familie, vielleicht für spätere Kinder und auch für Arbeit und Beruf sowie für gesellschaftliches Engagement. Gerechtigkeitssinn ist wichtig für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft, für ein menschliches und faires Miteinander und für die Fähigkeit zum Mitgefühl. Als Rechtsanwalt weiß ich, dass Gerechtigkeit nicht gleichbedeutend mit Recht sein kann, aber als hohes Ziel immer vor Augen sein sollte. Offenheit im Allgemeinen und Weltoffenheit im Besonderen sind im Zeitalter der Globalisierung, der immer kleiner werdenden Welt durch das Internet und durch die kürzeren Wege immer wichtiger. Wir werden immer internationaler, wenn wir auch aufpassen müssen, dass unsere nationale Identität dabei nicht verloren geht. Aber wir sind eben nicht nur Deutsche, sondern auch Europäer und Weltbürger.

Da im Leben nicht immer alles eitel Sonnenschein ist, braucht man ein gerütteltes Maß an Tapferkeit. Das ist so etwas wie innere Stärke, etwas aushalten und ertragen können, das Wissen, dass nach jedem Tal auch wieder ein Berg kommt. Es ist auch ein Stück Fähigkeit zur Verteidigung. Über die Lernbereitschaft brauche ich Euch sicher keinen Vortrag zu halten. Aber ohne die hohe Tugend der Weisheit, die neben der Erfahrung nicht ohne Bildung erreicht werden kann, werden wir unsere Gesellschaft nicht voranbringen. Das Lernen liegt in unserem Wesen und Ihr wisst es ebenfalls: Man lernt sein ganzes Leben lang. Nicht zuletzt sind die Lebensfreude und die Heiterkeit für ein glückliches Leben wohl unabdingbar. Mit dem Humor meine ich weniger die auswendig gelernten Witze oder die per SMS versendeten Filmchen. Nein, ich meine damit eher das Lächeln, das Schmunzeln, den Mutterwitz, den Alltagshumor - das Leichtnehmen von allzu schweren Dingen. Gesunder Humor muss immer auch von gesunder Ernsthaftigkeit ergänzt werden. Und, liebe jungen Menschen, so soll ganz sicher auch dieser heutige Tag verstanden werden. Er ist so zu sagen von heiterer Melancholie durchwoben und es ist gut, dem so genannten Ernst des Lebens mit einem Lächeln zu begegnen.

Ihr steht nun heute auf dieser von mir beschrieben Schwelle. Ich empfehle Euch, in das heutige Feiern auch ein kleines Stück Nachdenklichkeit zu mischen. Wer bin ich und was will ich? Denn wie stand es in einem Klassenzimmer über der Tafel geschrieben: "Du bist der Autor deiner eigenen Lebensgeschichte!" Wenn Ihr - nein - wenn Sie, liebe jungen Menschen, sich diesen Satz für heute mit auf die Lebensreise nehmen, machen Sie bestimmt nichts falsch. Sie sind die Autoren Ihrer eigenen Lebensgeschichte! Dieser Lebensweg selbst ist das Ziel. An jedem Tage neu. Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien alles erdenklich Gute und eine schöne Feier!"